Einige Bemerkungen zur Prager Typologie und der integralen Typologie*
Vít Boček
1. In der unübersehbaren Anzahl der Sprachtheorien, die den Namen Typologie tragen,1
gibt es meiner Meinung nach zwei Konzeptionen, die besondere Aufmerksamkeit verdienen.
Beide Theorien stellen einen originalen und kühnen Versuch dar, einige Gedanken aus den
älteren, vor allem im 19. Jahrhundert entstandenen typologischen Werken weiter zu
entwickeln und sie in einen festen theoretischen, nämlich strukturalistischen Rahmen zu
setzen. Den beiden Konzeptionen ist auch gemeinsam, dass sie nicht als „die einzige echte“
sprachwissenschaftliche Disziplin betrachtet werden sollen, sondern dass – ganz im Gegenteil
– jede von ihnen ihre streng abgegrenzte Stelle in einem breiteren linguistischen Programm
eingenommen hat.
Auf der einen Seite handelt es sich um die Typologie, für die sich der Name „Typologie
der Prager Schule“ oder einfach „Prager Typologie“ eingebürgert hat, weil sie durch ihre
Entstehung und ihre ganze Entwicklung eindeutig zur (hoffentlich noch offenen) Summe der
Texte gehört, mit denen die sog. Prager Schule identifiziert werden kann und soll. Die
Grundlagen dieser Theorie hat in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts Vladimír
Skalička, ein Vertreter der zweiten Generation der Prager Schule, begründet, und er hat sich
im Grunde während seiner ganzen wissenschaftlichen Laufbahn mit ihrer Präzisierung
beschäftigt. Sein Werk haben in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem Petr Sgall
und Jaroslav Popela weiterentwickelt, von Bedeutung sind – aus verschiedenen Gründen –
auch Werke von vielen anderen Autoren.2
Auf der anderen Seite geht es um die Typologie, die Eugenio Coseriu seit den sechziger
Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte. In der Konfrontation mit einigen anderen
typologischen Theorien hat Coseriu (1988, 200) seine eigene Typologie integral genannt, und
obwohl diese Bezeichnung nicht sehr verbreitet ist, gibt es keinen Grund, sie aufzugeben. Die
Typologie von Coseriu bildet übrigens eine wesentliche Komponente seines
sprachwissenschaftlichen Programms, das eben mit dem Namen integrale Linguistik
bezeichnet wird. Die Zentralperson dieser Theorie stellt Coseriu selbst dar, während sie durch
die typologischen Werke seiner Nachfolger – wie noch unten (§ 3.5.) gezeigt wird – kaum
bedeutend bereichert wurde.3
Was nun die konkrete Motivation betrifft, weshalb man sich heutzutage mit diesen
typologischen Theorien befassen sollte, möchte ich hier nur anführen, dass die beiden
Theorien in letzter Zeit gewisse neue Anregungen erhalten haben. In der Prager Typologie
stellt einen solchen Impuls das Buch von Vykypěl (2006) dar. Außer der Lösung mancher
partieller und allgemeiner Probleme der Prager Typologie wird in diesem Buch eine ganze
Reihe von Fragen gestellt und zur weiteren Bearbeitung vorgelegt. Die integrale Typologie
* Für Ihre Kommentare zu einer früheren Version dieses Textes danke ich Markus Giger, Petra
Poláková und Bohumil Vykypěl. Der Beitrag wurde mit Unterstützung des Projekts Nr. LC546 des
Ministeriums für Schulwesen, Jugend und Sport der Tschechischen Republik geschrieben.
1
Für eine Übersicht der typologischen Theorien siehe z. B. Skalička (1979, 312–334), Greenberg
(1974) und Haspelmath et al. (2001).
2
Eine fast exhaustive Bibliographie der Prager Typologie bietet Vykypěl (2006, 96–116).
3
Ein Verzeichnis der typologischen Werke von Coseriu ist in seiner Gesamtbibliographie zu finden
(siehe http://coseriu.de). Zu anderen Texten zur integralen Typologie vgl. Lüdtke (1988).
82
Vít Boček
könnte in nächster Zeit im Zusammenhang mit der Verarbeitung des Nachlasses von Eugenio
Coseriu neu belebt werden. Die Herausgabe einiger bisher nicht veröffentlichter Texte von
Coseriu und überhaupt das erhöhte Interesse für seinen wissenschaftlichen Nachlass (vgl.
http://coseriu.de) wird hoffentlich auch seine Typologie betreffen.
Im vorliegenden Aufsatz werde ich mich nur einigen Aspekten der beiden Theorien
widmen, besonders möchte ich ihre Ziele und ihre explikative Kraft vergleichen, aber auch
auf einige Probleme hinweisen. Ich werde dies vor allem durch eine Analyse ihrer
beiderseitigen Rezeption tun, die zwar in beiden Richtungen nicht sehr intensiv verlaufen ist,
aber dennoch viel aussagen kann. Dieser Beitrag soll also eher einen Versuch darstellen, eine
tiefere Diskussion zu initiieren, als das Thema abschließend zu rekapitulieren.
2. Zuerst ist es nötig zu betrachten, wie man in den erwähnten Theorien mit dem
Zentralbegriff, d. h. mit dem Typ, arbeitet. Der grundlegende Unterschied zwischen den
beiden Theorien besteht offensichtlich darin, dass sich der Typ in der integralen Typologie im
Rahmen der einzelnen Sprache befindet, während der Typ in der Prager Typologie außerhalb
der Sprache liegt.
2.1. Bekanntlich stellt der Typ bei Coseriu – neben der Norm und dem System – eine der
drei Strukturebenen der Sprache dar. Die Ebene der Norm umfasst alles, was in einer Sprache
üblich und traditionell ist, d. h. alles, was in der Sprache wirklich realisiert wird. Über der
Ebene der Norm liegt die höhere Ebene des Systems, d. h. die Ebene der funktionellen
Oppositionen und der dem Aufbau der sprachlichen Elemente zugrundeliegenden Regeln.
Über der Ebene des Systems liegt schließlich die höchste Ebene, jene des Typs, auf der sich
die allgemeinsten Prinzipien des Sprachaufbaus befinden. Mit anderen Worten: Die Norm ist
die Gesamtheit der Realisationen, das System enthält die den Realisationen entsprechenden
Regeln und der Typ ist die Gesamtheit der den Regeln des Systems zugrundeliegenden
Prinzipien (vgl. Coseriu 1988, 166, 179, 187f., 201, 207f., 1992, 293–302). Seine Auffassung
hat Coseriu folgendermaßen schematisch dargestellt:
In diesem Schema bezeichnen die schwarzen Punkte die realisierten Fakten, die weißen
Punkte hingegen die möglichen, aktuell nicht vorkommenden, aber potentiell realisierbaren
Fakten. Darin besteht die dynamische Auffassung der Sprache in dieser Theorie, denn Coseriu
versucht, Synchronie und Diachronie zu vereinigen: Der Wandel (die Diachronie) der Norm,
d. h. die Entstehung einer auf dieser Ebene bisher nicht bestehenden Erscheinung, entspricht
dem Zustand (der Synchronie) des Systems, d. h. den weiterhin geltenden Regeln des Aufbaus
der Sprachelemente; der Wandel (die Diachronie) des Systems, d. h. die Entstehung einer auf
dieser höheren Ebene bisher nicht bestehenden Erscheinung, entspricht wiederum dem
Zustand (der Synchronie) des Typs, d. h. dem weiterhin geltenden allgemeinen Prinzip.4 Der
4
Das angeführte Schema ist allerdings nur ein Teil eines breiteren Schemas, und zwar jener, der nur
die funktionelle Sprache (die Struktur der Sprache) in Coserius Konzeption umfasst. Das breitere
Schema, das eigentlich die ganze Vorstellung Coserius über die Strukturierung der Sprache zeigt, lässt
sich in der vollständigsten Form – etwas überraschend – im Werk über das Verbalsystem der
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diachrone Aspekt der integralen Typologie scheint dermaßen problematisch, dass er an einer
anderen Stelle ausführlicher behandelt werden sollte. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass
sich insbesondere die Frage nach der Lösung jener Fälle stellt, in denen auf der Ebene der
Norm eine neue, den Systemregeln n i c h t entsprechende Erscheinung entsteht, sowie, wenn
auf der Ebene des Systems eine neue, dem Typ n i c h t entsprechende Erscheinung entsteht –
dann ist nämlich das Problem des Wandels des Typs zu lösen.
Was die synchrone Beschreibung einer konkreten Sprache betrifft, verfährt man in dieser
Theorie immer von der niedrigeren zur höheren Ebene. Es handelt sich also um ein induktives
Verfahren, in dem man für die beobachteten sprachlichen Erscheinungen einen gemeinsamen
Nenner sucht, das Allgemeine hinter dem Konkreten entdeckt und nach dem Finden eines
möglichst einheitlichen Prinzips strebt.
Das erste Ziel dieser Typologie ist es, den Typ einer konkreten Sprache festzustellen. Erst
sekundär lässt sich auch konstatieren, dass einige Sprachen denselben Typ haben, d. h. dass
ihre unterschiedlichen Systeme einem gemeinsamen allgemeinen Aufbauprinzip entsprechen
(man kann also nur voraussetzen, dass die Anzahl der Typen geringer ist als die Anzahl der
Sprachen). Schematisch gezeigt:
2.2. Ganz unterschiedlich ist die Auffassung des Typs in der Prager Typologie. Der Typ
wird als etwas außerhalb einer konkreten Sprache Stehendes betrachtet, das sich nur in einem
gewissen Grad in der Sprache manifestiert. Der Typ ist ein in der Sprache nie vollkommen
realisiertes Konstrukt, das Skalička als ein Bündel von einander günstigen Eigenschaften
definiert hat. Dies hat später Sgall in der Weise präzisiert, dass die Spracheigenschaften nicht
notwendig einander wechselseitig günstig sein müssen: Für jeden Typ lässt sich eine
Grundeigenschaft festsetzen, die sog. Dominante, von der man andere Eigenschaften
schrittweise ableiten kann (vgl. noch unten § 3.3.).
Eine konkrete Sprache wird dann als eine Kombination von verschiedenen Eigenschaften
der einzelnen Typen betrachtet und beschrieben. In der Prager Typologie gibt es fünf Typen:
den isolierenden, den agglutinierenden, den polysynthetischen, den flektierenden und den
introflexiven Typ. In der Regel herrschen in einer Sprache die Eigenschaften eines Typs vor,
dies ist aber nicht unumgänglich – man geht normalerweise davon aus, dass in einer
konkreten Sprache mehrere, d. h. zwei, drei oder sogar vier Typen dominieren können. Auch
die Prager Typologie hat ihren diachronischen Aspekt, in der Sprachentwicklung kann man
nämlich Tendenzen zu einer größeren Durchsetzung eines Typs oder mehrerer Typen
beobachten. Auch hier besteht eine Reihe von interessanten Fragen. In diesem Text möchte
ich sie jedoch beiseite lassen und mich nur mit dem synchronen Aspekt der Prager Typologie
befassen (wichtige Texte zur Prager Typologie siehe insbesondere in Skalička 1979, Sgall
2006 und Vykypěl 2006).
romanischen Sprachen finden (Coseriu 1976, 35). Es sei noch bemerkt, dass dieses allgemeine Schema
der Sprache wiederum in die Mitte der Tabelle einzusetzen ist, in der Coseriu in seiner Einführung in
die allgemeine Sprachwissenschaft (Coseriu 1992, 254) das Programm der ganzen integralen
Linguistik vorgestellt hat.
84
Vít Boček
3. Nach der kurzen Darstellung der Zentralbegriffe und Grundsätze der beiden
typologischen Theorien werde ich mich nun auf einige Probleme oder Unklarheiten
konzentrieren.
3.1. Die integrale Typologie ist von Sgall positiv bewertet worden (vgl. Sgall 1972, 69f.,
1993, 326, 1995, 74f., 1999, 30, 2006, 33 und auch Skalička–Sgall 1994, 341f.). Dabei
versucht Sgall etwas zu finden, was den beiden Konzeptionen gemeinsam wäre. Die Nähe der
beiden Theorien findet er darin, dass man in beiden Fällen die Koexistenz von mehreren
Typen in einer Sprache zulässt. Es scheint jedoch, dass Sgall in dieser Hinsicht
Unvergleichbares vergleicht. Tatsächlich nimmt Coseriu in seinen Texten die Koexistenz von
mehreren Typen in einer Sprache an (Coseriu 1988, 182, 193, 205). Gerade dies scheint
jedoch die Schwäche der integralen Typologie zu sein. Die Zulassung mehrerer Typen in
einer Sprache ist vielmehr eine Notlösung: Es zeigt sich, dass der Typ als Aufbauprinzip eine
Reihe von Systemerscheinungen nicht erfasst, d. h. dass einige Erscheinungen des Systems
dem festgestellten Typ nicht entsprechen. Schematisch gezeigt:
Natürlich ist es möglich, in diesem Zusammenhang das Vorhandensein mehrerer Typen in
einer Sprache zuzulassen, nichtsdestoweniger würde dann die Aufbaulogik der integralen
Typologie verlangen, eine noch höhere Sprachebene zu postulieren, auf der eine den
festgestellten Typen gemeinsame Grundlage zu platzieren wäre, also:
In diesem Fall droht jedoch offensichtlich die Gefahr eines Aufbaus der Sprachebenen ad
infinitum (vgl. dazu auch Lehmann 1988, 8 sowie Coseriu 1988, 182 selbst), was gerade
dadurch gegeben ist, dass man bei der Beobachtung der Sprache von den niedrigeren zu den
höheren Ebenen verfährt: Das induktive Verfahren ist im Prinzip daher problematisch, weil
immer eine Erscheinung gefunden werden kann, die den bisherigen Aufbau bricht. Jedenfalls
sinkt bei der Akzeptierung des Vorhandenseins mehrerer Typen in der Sprache die explikative
Kraft der auf dieser Weise konstruierten Typologie (Lehmann 1988, 19).
Im Gegensatz dazu bildet die Koexistenz von Typen in einer Sprache ein konstitutives
Merkmal der Prager typologischen Theorie. Man verfährt dabei deduktiv: Zuerst sind die
Typen zu postulieren (ihre Dominante und die von ihr abgeleiteten Eigenschaften), erst
danach kann man an die Untersuchung ihrer Manifestation in konkreten Sprachen herantreten.
Hier möchte ich hervorheben, dass der Hauptunterschied zwischen der Prager und der
integralen Typologie in dieser Hinsicht darin besteht, dass es sich bei der Prager Typologie
nicht um Koexistenz der Typen als Ganzen, sondern nur um Vorhandensein einiger
Eigenschaften von verschiedenen (bzw. allen) Typen in der Sprache handelt.
3.2. Zusammen mit der Frage nach der Koexistenz von Typen in Sprachen stellt Sgall eine
andere Frage, und zwar ob der als Konstrukt definierte Typ in der Prager Typologie und der
als ein ideales Prinzip entdeckte Typ in der integralen Typologie einander so fern stehen, wie
es auf den ersten Blick scheinen könnte. Ich glaube, dass es dem wirklich so ist. In der
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integralen Typologie wird der Typ bei der empirischen Beobachtung des Sprachsystems
festgestellt; in der Prager Typologie sind die Typen hingegen a priori gegeben, und man
schaut die Sprache durch sie an. In der integralen Typologie sollte der Typ im idealen Fall nur
eine, möglichst generelle Formel (wie beispielsweise der sog. romanische Typ, vgl. § 3.5.)
darstellen; in der Prager Typologie wird der Typ durch eine Menge von möglichst viel
miteinander zusammenhängenden Eigenschaften gebildet. Das Grundmoment, das die beiden
Theorien voneinander entfernt hält, ist die Stellung des Typs innerhalb der Sprache im
ersteren und außerhalb der Sprache im letzteren Fall.
3.3. Es wurde gesagt (§ 3.1.), dass der erste Schritt in der Konstruktion der Prager
Typologie die Postulierung der Typen darstellt. Im Rahmen der Prager Typologie hat sich die
Auffassung Sgalls durchgesetzt: Die Dominante der Typen wird nach einem einzigen
Kriterium festgesetzt, und zwar nach dem Ausdruck der grammatischen Funktionen. Zunächst
geht man von einem offensichtlich sprachuniversalen Unterschied aus, und zwar vom
Unterschied zwischen den grammatischen und den nichtgrammatischen (lexikalischen)
Funktionen. Während die lexikalischen Funktionen überall gleich ausgedrückt werden, und
zwar durch Sukzession von Phonemen, können die grammatischen Funktionen verschieden
ausgedrückt werden, nämlich in fünf Weisen. Die Dominante der einzelnen Typen beruht
eben darauf, wie die grammatischen Funktionen ausgedrückt werden (vgl. Sgall 1995, 64f.,
2006, 25f., 383, 404, Skalička–Sgall 1994, 343f.):
1. im polysynthetischen Typ: durch die Reihenfolge von Phonemsukzessionen, welche die
nichtgrammatischen Funktionen ausdrücken (d. h. durch die Reihenfolge der lexikalischen
Elemente);
2. im isolierenden Typ: gleich wie die nichtgrammatischen Funktionen, d. h. durch
Phonemsukzessionen, wobei diese in Form von Wörtern auftreten, d. h. den die
nichtgrammatischen Funktionen ausdrückenden Sukzessionen nicht angefügt werden;
3. im agglutinierenden Typ: gleich wie die nichtgrammatischen Funktionen, d. h. durch
Phonemsukzessionen, wobei diese in Form von Affixen auftreten, d. h. den die
nichtgrammatischen Funktionen ausdrückenden Sukzessionen angefügt werden;
4. im flektierenden Typ: durch Variierung (Modifizierung) von Phonemsukzessionen,
welche die nichtgrammatischen Funktionen ausdrücken, wobei dies am Ende der
Sukzessionen geschieht;
5. im introflexiven Typ: durch Variierung (Modifizierung) von Phonemsukzessionen,
welche die nichtgrammatischen Funktionen ausdrücken, wobei dies im Inneren der
Sukzessionen geschieht.
Die Grundeigenschaft der Typen stellt also die Art der Zuordnung der Form zur
(grammatischen) Funktion dar, d. h. im Grunde der Aufbau des Sprachzeichens. Die
Dominante wird somit in jenem Sprachbereich festgesetzt, der relativ wenig durch „die
außersprachliche Welt“ determiniert wird, d. h. in der Morphologie. Von der Dominante
werden dann weitere Eigenschaften abgeleitet, wobei einige von ihnen auch aus anderen
Bereichen der Sprache herstammen: Im Konstrukt der einzelnen Typen sind Erscheinungen
aus der Syntax, Wortbildung oder Phonologie enthalten. Die Ableitung der Eigenschaften
wird dabei als Voraussetzung mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad betrachtet (die
Eigenschaften folgen aus der Dominante nicht notwendigerweise, sondern nur durch eine
Wahrscheinlichkeitsimplikation). In der auf dieser Weise konstruierten Typologie ist es auch
von gewisser Wichtigkeit, dass sprachliche Erscheinungen Eigenschaften nicht nur eines,
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Vít Boček
sondern auch zweier oder sogar dreier Typen darstellen. Dies lässt sich vielleicht am besten
folgendermaßen veranschaulichen:
Bedeutend ist jedoch die Tatsache, dass eine Eigenschaft, die in Konstrukten von mehreren
Typen enthalten ist, in jedem Typ eine andere Stelle in der deduktiven Ableitungshierarchie
einnimmt. Als Beispiel einer zum Konstrukt von drei Typen zugehörigen Eigenschaft kann
die feste Wortfolge dienen. In der Prager Typologie wird nämlich die feste Wortfolge als
Eigenschaft des polysynthetischen, des isolierenden und des agglutinierenden Typs betrachtet.
Im polysynthetischen Typ bildet sie die Grundeigenschaft, d. h. die Dominante (siehe oben),
während sie im isolierenden und im agglutinierenden Typ als eine abgeleitete Eigenschaft
auftritt und dies außerdem in beiden Typen auf einer anderen Stufe. Im isolierenden Typ wird
die feste Wortfolge direkt von der Dominante dieses Typs, d. h. vom Ausdruck der
Funktionen durch selbstständige Wörter, abgeleitet: Selbstständige Wörter können nicht alle
Funktionen ausdrücken, und die feste Wortfolge übernimmt somit ihre Rolle (vgl. Skalička
1979, 339, Sgall 1995, 63). Schließlich wird die feste Wortfolge im agglutinierenden Typ in
der Ableitungshierarchie von Eigenschaften noch tiefer eingestuft: Sie folgt aus dem
Nichtvorhandensein der Kongruenz, und erst das Nichtvorhandensein der Kongruenz folgt aus
der Dominante (der Ausdruck der grammatischen Funktionen durch zahlreiche Affixe lässt
die „überflüssigen“ Kongruenzaffixe nicht mehr zu). Wenn es keine Kongruenz gibt, wird
folglich beispielsweise die Abhängigkeit des Adjektivs vom Substantiv durch die feste
Position der Wörter ausgedrückt (Skalička 1979, 337, Sgall 2006, 365, Vykypěl 2006, 58f.,
Anm. 12).5
3.4. Erst nach dem Konstruieren der Typen lässt sich in der Prager Typologie an die –
möglichst komplexe – Beschreibung einer konkreten Sprache herantreten. Dabei entsteht
natürlich eine ganze Reihe von Unklarheiten. Wenn wir beispielsweise wieder die feste
Wortfolge thematisieren, können wir uns die Frage stellen, wie bei der typologischen
Beschreibung einer konkreten Sprache zu bestimmen ist, ob die gegebenenfalls festgestellte
feste Wortfolge eine Eigenschaft des polysynthetischen, des isolierenden oder des
agglutinierenden Typs darstellt. Ähnlich lässt sich bei einer empirischen Beobachtung oft
auch nicht einfach entscheiden, ob ein Segment Affix oder selbstständiges Hilfswort ist,
wobei unsere Interpretation zweifelsohne typologisch relevant ist (vgl. Sgall 2006, 407).
Ich werde mich jetzt mit zwei allgemeineren Fragen befassen, die die konkrete
Beschreibung von Sprachen in der Prager Typologie betreffen, und ich möchte dies im
Zusammenhang mit der Rezeption der Prager Typologie durch Coseriu tun. Man kann nur
bedauern, dass Coseriu offensichtlich weder die Texte zur Prager Typologie von Sgall noch
jene von Popela kannte, in denen er eine Antwort auf manche seiner Fragen zur Prager
Typologie hätte finden können. Auch die neuesten Texte von Vykypěl scheinen einige von
Coseriu gestellte Fragen zu beantworten.
5
Außerdem lässt sich die feste Wortfolge in der Prager Typologie auch qualitativ differenzieren: Die
polysynthetische feste Wortfolge ist „semantisch“, während die isolierende „formal“ ist; detailliert
sowie im Zusammenhang mit der Grammatikalisierungstheorie vgl. hierzu Vykypěl (2006, 58f.).
Einige Bemerkungen zur Prager Typologie und der integralen Typologie
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3.4.1. Coseriu hat mehrmals die Konzeption Skaličkas als die beste – wohl die integrale
Typologie ausgenommen – typologische Theorie bewertet (vgl. Coseriu 1988, 170–171, 187,
200). Er hat die Skaličkasche Typologie „Typologie von sprachlichen Verfahren“ oder
„Typologie von Sprachgestaltungsmethoden“ genannt. Wahrscheinlich dürfte er damit ihre
Betonung der formalen Seite der Sprache gemeint haben, er warf nämlich der Prager
Typologie vor, sie berücksichtige nicht genügend die unterschiedlichen Typen der Funktionen
(was Coseriu beispielsweise bei der Unterscheidung zwischen den relationellen und den
nichtrelationellen Funktionen im sog. romanischen Sprachtyp tut; siehe unten § 3.5.). Dieser
Vorwurf kann akzeptiert werden, aber lediglich mit dem Hinweis, dass er nur die Werke von
Skalička angeht. Gegenwärtig ist diese Frage in der Prager Typologie bereits in einem
gewissen Umfang gelöst. Meiner Meinung nach hängt diese Frage mit Vykypěls Erwägungen
über die Feststellung der Dominante der Sprache zusammen (vgl. Vykypěl 2006, 35, 55f.):
Allgemein ist in dieser Hinsicht offenbar der Bereich der Grammatik von größerer Bedeutung,
während die typologisch relevanten Erscheinungen aus den anderen Bereichen der Sprache,
d. h. der Wortbildung, Semantik, Syntax und Phonologie, als marginal zu bewerten sind. Im
Rahmen der Grammatik muss indessen ein Kriterium gefunden werden, aufgrund dessen die
Funktionen hierarchisiert werden können. Dazu kommt natürlich die allgemeinere Frage,
welche Funktionen überhaupt als grammatische Funktionen zu betrachten sind, oder besser
gesagt aufgrund von welchem Kriterium die Grammatizität der Elemente festzustellen ist.
Vykypěl schlägt vor, in erster Linie von einer Auffassung auszugehen, welche die
Grammatizität der Elemente nur im Inhaltsplan sucht: In diesem Fall würden eben die
Elemente des Inhaltsplans (d. h. beispielsweise die Funktoren und Grammateme im Rahmen
von Sgalls Funktional-generativer Beschreibung) als die wichtigsten Funktionen betrachtet.
Erst als Zusatzkriterium kann folglich die Auffassung dienen, die beim Suchen nach der
Grammatizität auch den Ausdruck der Inhaltselemente berücksichtigt: Dann würden als die
für die Feststellung der Dominante entscheidenden Elemente diejenigen betrachtet, die stärker
grammatisch sind, das heißt solche, welche möglichst einheitlich ausgedrückt werden (d. h.
im idealen Fall alle Glieder derselben Kategorie auf die gleiche Weise und zugleich kein
Glied durch Null). Ein systematischer Versuch, diesen theoretischen Vorschlag praktisch in
einer konkreten Sprache zu demonstrieren, fehlt jedoch in der Prager Typologie bisher.
3.4.2. Coseriu (1988, 202) stellt auch die Frage, wie die Prager Typologie die Kombination
von Eigenschaften mehrerer Typen in einer Sprache erklärt; er fragt, ob dies mit Hilfe eines
höheren Prinzips gedeutet werden kann oder ob es sich nur um einen Zufall handelt. Die
Antwort auf diese Frage hätte Coseriu in Popelas Texten zur Prager Typologie finden können
(vgl. Popela 1985, 1991, 1996). Die methodologische Bereicherung der Prager Typologie
durch Popela besteht in seiner Auffassung der typologischen Dominante, die anders als bei
Sgall ist. Popela konstruiert die Dominante der Typen als eine Kombination von mehreren,
genau gesagt drei Eigenschaften. Die erste Eigenschaft ist die Günstigkeit des Typs zu den
grammatischen Elementen: Der polysynthetische Typ wird als der (relativ)
„nichtgrammatische“ Typ betrachtet, und zwar im Gegensatz zu den übrigen vier Typen, die
den grammatischen Elementen günstig sind. Die zwei weiteren Eigenschaften betreffen nur
die „grammatischen“ Typen. Die zweite Eigenschaft ist die Kumulierung von Semen
(Inhaltselementen) in grammatischen Zeichen: Die Kumulierung kommt im flektierenden und
im introflexiven Typ vor, während sie im isolierenden und im agglutinierenden Typ fehlt. Die
dritte Eigenschaft stellt die Stufe der Fusion zwischen dem lexikalischen und dem
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Vít Boček
grammatischen Zeichen dar: Die Fusion ist im isolierenden Typ minimal (das Grammem tritt
als selbstständiges Wort auf), im agglutinierenden ist sie höher (das Grammem wird als Affix
an das Lexem angehängt), im flektierenden noch höher (das Grammem stellt eine Endung des
Lexems dar), und maximal ist sie im introflexiven Typ (das Grammem durchdringt das
Lexem). Die Antwort auf die von Coseriu gestellte Frage liegt nahe: Die Art und Weise, wie
sich die Typen in Sprachen miteinander kombinieren, ist nicht zufällig, sondern besteht
bereits darin, wie die Typen konstruiert werden; sie besitzen nämlich einige gemeinsame
Eigenschaften, sogar auch solche, welche zur Dominante gehören. So lässt sich beispielsweise
die häufig vorkommende Kombinierung einer flektierenden Morphologie mit einer
agglutinierenden Wortbildung (wie dies z. B. im Tschechischen der Fall ist) damit erklären,
dass der flektierende und der agglutinierende Typ bereits in ihren Dominanten etwas
Gemeinsames haben, und zwar die Neigung zu grammatischen Elementen.
3.5. Oben (§ 3.1.) habe ich darauf hingewiesen, dass bereits das induktive Verfahren selbst,
welche die integrale Typologie wählt, eine gewisse Unsicherheit mit sich bringt. Damit
möchte ich mich jetzt näher beschäftigen. Eine Schwierigkeit scheint vor allem darin zu
bestehen, dass nicht völlig klar gesagt wird, was genau der Sprachwissenschaftler im System
der Sprache beobachten sollte. Es gibt keine feste Anweisung, wie man den Typ als
Einheitsprinzip entdecken soll, oder mit anderen Worten, es gibt kein allgemeines Kriterium,
aufgrund dessen man die Erscheinungen eines Sprachsystems betrachten sollte.
Bekanntlich hat Coseriu nur zwei Typen formuliert. Der sog. romanische Typ, der nach
Coseriu allen romanischen Sprachen mit Ausnahme des Französischen und Okzitanischen
gemeinsam ist, beruht auf dem folgenden Prinzip: Die inneren, nichtrelationellen Funktionen
werden durch innere, paradigmatische, d. h. synthetische Formen ausgedrückt, die äußeren,
relationellen Funktionen hingegen durch äußere, syntagmatische, d. h. periphrastische
(analytische) Formen. Als nichtrelationell werden diejenigen Funktionen betrachtet, die nicht
die Satzbeziehungen zwischen den Wörtern angeben, während die relationellen Funktionen
eben die Beziehungen (Relationen) innerhalb des Satzes bilden. Dieses Prinzip hat Coseriu im
Bereich der Morphologie, der Syntax und der Wortbildung der romanischen Sprachen
gefunden. In der nominalen Morphologie beispielsweise hält Coseriu Numerus und Genus für
nichtrelationelle Funktionen, für relationelle Funktion hingegen die Kategorie des Kasus.
Beim Verb findet Coseriu den Gegensatz zwischen den nichtrelationellen und den
relationellen Funktionen in der Opposition der synthetischen und der analytischen Formen:
Die synthetischen Formen drücken nur eine einzige zeitliche Position aus, die analytischen
Formen hingegen eine Relation zwischen zwei Zeitpunkten (z. B. verweist das Perfekt he
dicho ‘ich habe gesagt’ im Spanischen sowohl auf die Vergangenheit als auch auf die
Gegenwart).
Den zweiten Typ hat Coseriu als das Einheitsprinzip im System des Deutschen und des
Altgriechischen formuliert. Dieses Prinzip besteht nach Coseriu in der sog. kontextuellsituationellen Bezogenheit (Bedingtheit). Beide Sprachen besitzen Mittel, die auf den
außersprachlichen Kontext hinweisen. Es handelt sich um Partikeln (deutsch denn, zwar …
aber, altgriechisch γ ρ,
…
), präfigierte Verben (deutsch hinfallen, abfallen,
altgriechisch ’α απίπτω, ’ κπίπτω) und Nominalkomposita (Fahrkarte, Eintrittskarte). Auf die
erwähnte Rolle dieser Mittel im System der betreffenden Sprachen lässt auch die Tatsache
schließen, dass ihre Anwendung als Determinanten des Kontextes oder der Situation in jenen
Fällen, in denen eben der Kontext oder die Situation klar und eindeutig sind, nicht
Einige Bemerkungen zur Prager Typologie und der integralen Typologie
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obligatorisch ist (statt Fahrkarte kann nur Karte stehen, statt ’α απίπτω nur πίπτω, statt Wie
spät ist es denn/eigentlich? nur Wie spät ist es? usw.).
In den beiden Fällen wird eine Reihe von Erscheinungen im Sprachsystem elegant auf
einen gemeinsamen Nenner gebracht, aber die Typen haben nichts miteinander gemeinsam.
Sie sind nicht aufgrund eines einheitlichen Kriteriums vergleichbar. Man weiß einfach nicht,
mit welcher Methode Coseriu zur Feststellung der zwei Typen gelangt ist. Ich glaube, dass
gerade die Tatsache, dass weder Coseriu noch seine Nachfolger einen neuen Typ für eine
weitere Sprache formuliert haben, sehr klar auf die Absenz eines festen Verfahrens in der
integralen Typologie hindeutet. Man kann im Gegenteil eine Tendenz sehen, Sprachen gerade
durch die zwei von Coseriu formulierten Typen zu beobachten und dabei zu untersuchen, ob
sie im System der betreffenden Sprache gelten oder nicht. Zu den besten Werken in dieser
Hinsicht gehören die Analysen von Eckert (1986, 1988), welche gezeigt hat, wie es in der
Entwicklung des Französischen dazu gekommen ist, dass diese Sprache heute dem
romanischen Typ nicht entspricht. Copceag (1988) hat die Absenz des romanischen Typs in
den slavischen und germanischen Sprachen gezeigt, und ich habe seine Existenz im
Rumänischen bezweifelt (Boček 2006, 2007). Dezső (1988, 47) hat dasselbe Prinzip, das
Coseriu für Deutsch und Altgriechisch formulierte, auch auf das Ungarische angewandt.
Linder (1988) hat sogar versucht, die beiden von Coseriu formulierten Typen zu verbinden:
Seiner Meinung nach stellt die kontextuell-situationelle Bedingtheit im Rätoromanischen eine
relationelle Funktion dar, und sie ist deshalb syntagmatisch ausgedrückt.
Bei der Absenz eines festen Kriteriums für die Feststellung von Typen droht immer die
Gefahr, dass man bei der Beobachtung eines Sprachsystems in erster Linie diejenigen Züge
berücksichtigt, die auffällig oder ungewöhnlich sind. Ich glaube jedoch, dass dies nicht der
Fall der integralen Typologie ist. Das bezeugt gerade die Formulierung des romanischen Typs
in Beziehung auf das Lateinische. Bereits im Lateinischen gab es den Gegensatz zwischen
den synthetischen und den analytischen Formen, aber dieser war nicht mit der Unterscheidung
zwischen relationellen und nichtrelationellen Funktionen verbunden. Unter der
Gleichförmigkeit des Lateinischen und der romanischen Sprachen an der Oberfläche
entdeckte also Coseriu eine versteckte, tiefe Verschiedenheit.
Dass es aber in der integralen Typologie immer nur um die innere Strukturierung einer
jeden Sprache (höchstens einiger weniger Sprachen zugleich) geht, hat – auf die für ihn
typische lakonische Weise – gerade Skalička (1988) geäußert: Er hat zwar die Auffassung von
Coseriu (vor allem die Formulierung des romanischen Typs) positiv bewertet, hat aber über
die Typologie von Coseriu als über die Typologie, die „die charakteristischen Züge sucht“,
gesprochen. Einem Forscher, der sich der Wurzeln der Prager Typologie bewusst ist, muss
auffallen, wie nahe die Typologie von Coseriu in dieser Hinsicht der sog. Charakterologie von
Vilém Mathesius steht. Diese Disziplin soll sich laut Mathesius (1928, 59) mit „den wichtigen
und grundsätzlichen Zügen einer gegebenen Sprache“ befassen und „ihre wechselseitigen
Beziehungen feststellen“. Ein Beispiel einer solchen Methode stellt die Erforschung einiger
Konstruktionen im heutigen Englischen dar. Mathesius verweist auf die Häufigkeit von
Passivkonstruktionen (I have been told) mit einer possessiven (I will not have it cast in my
teeth) und perzeptiven (He found himself pushed) Untergruppe, auf die Häufigkeit von
persönlichen Konstruktionen (I am sorry to hear) usw. und bringt sie in Zusammenhang mit
dem einfachen Übergang von Wörtern im Englischen aus der einen Wortklasse in die andere.
Nach Mathesius liegt diesen Erscheinungen im Englischen eine Tendenz zugrunde, in die
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Subjektposition des Satzes nicht dessen Rhema, sondern das Thema zu stellen. Auch bei
Mathesius kann man also einen Versuch sehen, verschiedene sprachliche Erscheinungen in
ihren Zusammenhängen zu beobachten und nach dem zu suchen, was ihnen gemeinsam ist,
d. h. nach einem einheitlichen, ihnen zugrundeliegenden Prinzip (zum Vergleich von
Mathesius und Coseriu vgl. auch Dezső 1988, 44f., 51).
Der Vergleich zwischen der integralen Typologie und der Charakterologie von Mathesius
kann uns zu einer vielleicht noch interessanteren Überlegung bringen, die die Unklarheit des
Verfahrens bei der Untersuchung des Sprachsystems in der integralen Typologie betrifft.
Obwohl Coseriu keine allgemein geltende Anweisung zur Entdeckung des Typs geboten hat
und nur etwas unklar auf den Humboldtschen Begriff der Intuition hingewiesen hat (vgl.
Coseriu 1988, 164, 197f. und auch Geckeler 1988, 67), glaube ich, dass seine Formulierung
der zwei Typen darauf hinzudeuten scheint, dass ihm als ein Hilfsmittel dasselbe Verfahren
diente, das auch Mathesius benutzte, und zwar die Konfrontation der betreffenden Sprache
mit ihren älteren Stadien einerseits und mit einigen anderen Sprachen andererseits. Ebenso
wie Mathesius zum erwähnten Prinzip, das im modernen Englischen gilt, durch Vergleich mit
dem Mittelenglischen und dem Deutschen gelangte, konnte offensichtlich Coseriu bei der
Formulierung des romanischen Typs ein Vergleich der Systeme der romanischen Sprachen
mit dem lateinischen System und bei der Formulierung des auf kontextuell-situationeller
Bezogenheit beruhenden Typs wiederum ein Vergleich des Deutschen mit dem
Altgriechischen helfen (im zweiten Fall spielte vielleicht auch der Vergleich des Deutschen
mit einigen weiteren Sprachen eine Rolle, denn Coseriu hat bei seiner Analyse oftmals darauf
hingewiesen, dass z. B. in den romanischen Sprachen die kontextuell-situationelle
Bezogenheit nicht gilt). In seinen Texten wies Coseriu die Auffassung der Typologie als
Sprachvergleichung zurück; dennoch stellt die Berücksichtigung der Situation in anderen
Sprachen oder in einem anderen Stadium derselben Sprache bei dem von Coseriu
angewandten induktiven Verfahren ein natürliches Hilfsmittel dar. Im Zusammenhang damit
ist der Vorteil der Prager Typologie zu erwähnen: Auch die Prager Typologie nahm ihren
Ausgangspunkt in konkreten Beobachtungen (und Vergleichungen) von Sprachen ein; danach
wurde aber ein wichtiger Schritt gemacht – die Erfahrungsdaten wurden so stark wie möglich
generalisiert, und als Grundlage für den weiteren Aufbau der Theorie wurde ein
sprachuniversaler Zug genommen, der Gegensatz zwischen den lexikalischen und den
grammatischen Elementen. Auf dieser festeren Grundlage kann man folglich die einzelnen
Sprachen besser vergleichen, und zwar zugleich mit der typologischen Beschreibung von
Sprachen, nicht erst nachträglich. Solange ein einheitliches Kriterium zur Untersuchung von
Sprachen nicht auch in der integralen Typologie gefunden wird und solange man auf der
Untersuchung im Rahmen von einer einzigen Sprache ohne Vergleich mit anderen Sprachen
beharrt, wird diese Theorie eigentlich mit jeder beliebigen Sprachbeschreibung, die einen
gemeinsamen Nenner für sprachliche Erscheinungen sucht, vergleichbar sein. Es lässt sich
hier beispielsweise die Analyse erwähnen, die Ikegami (2001) für das Japanische vorgelegt
hat, in der sie die Absenz der grammatischen Kategorie des nominalen Numerus und die
Absenz des Ausdrucks der verbalen Perfektivität auf den gemeinsamen Nenner der
„Unbegrenztheit“ gebracht hat.
4. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die beiden betrachteten typologischen
Konzeptionen das Ziel, das sie erreichen möchten, gemeinsam haben: Allgemein gesprochen
Einige Bemerkungen zur Prager Typologie und der integralen Typologie
91
geht es darum, sich in der Vielfalt der sprachlichen Erscheinungen zu orientieren und ihre
Zusammenhänge zu erklären (vgl. Vykypěl 2006, 10). Die beiden Theorien versuchen, hinter
der Varianz an der Oberfläche eine tiefe Invarianz zu entdecken. Sie unterscheiden sich
jedoch dadurch, wie sie diese Aufgabe lösen. Die Prager Typologie hat sich zum Verständnis
der Variation (sowohl der Mannigfaltigkeit der Erscheinungen im Rahmen einer Sprache als
auch der Verschiedenheit der Sprachen als Ganzen) relativ sichere Instrumente
herausgearbeitet, und zwar die fünf aufgrund eines Kriteriums definierten Typen, und sie
kann somit alle Einzelsprachen als Kombinationen dieser Typen erfassen. Die integrale
Typologie erforscht primär die Variation (Mannigfaltigkeit) der Erscheinungen im Rahmen
einer einzigen Sprache, und zwar als eine Manifestation eines einzigen Typs, was ihr
unmöglich macht, die Variation (Verschiedenheit) der Sprachen als Ganzen zu ergreifen.
Die beiden Theorien entdecken jedoch auch eine tiefe Varianz hinter der Invarianz an der
Oberfläche. Oben (§§ 3.3., 3.5.) wurden die unterschiedlichen Arten der festen Wortfolge im
Fall der Prager Typologie und der verschiedene Status der analytischen und der synthetischen
Formen in den romanischen Sprachen im Gegensatz zum Lateinischen im Fall der integralen
Typologie erwähnt. Auch hier kann man jedoch den immer wieder erscheinenden
Hauptunterschied zwischen den beiden Theorien sehen: Die Prager Typologie behandelt jede
sprachliche Erscheinung zunächst mit ihren allgemeinen Instrumenten (d. h. mit den
Konstrukten der fünf Typen), erst danach kann die Beschreibung von konkreten Sprachen
folgen; die integrale Typologie hat kein solches allgemeines Instrument aufgebaut und muss
daher unmittelbar mit Untersuchung und Beschreibung einer konkreten Sprache beginnen.
Streng genommen sind die gewählten Methoden der beiden typologischen Theorien dermaßen
unterschiedlich, dass sie zu demselben Ziel nicht gelangen können: Die Prager Typologie
bietet eine allgemeine Einsicht in die Sprachen an, während die integrale Typologie eine
individuelle Einsicht in die Sprache ermöglicht.
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Vít Boček
Institut für tschechische Sprache
Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik
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